Wie kann es uns gelingen, aus dem schwächenden Gefühl des Bedrohtseins herauszukommen und stattdessen dem kräftigenden Gefühl des Herausgefordertseins Platz zu machen?
Die Bedrohung bedroht immer etwas, das uns eigen ist. Zum Bespiel fühlen wir unsere Gesundheit oder gar unser Leben durch einen krankmachenden Erreger bedroht, unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit wegen drohender oder eingetretener Insolvenz und Verlust des Arbeitsplatzes oder wir sehen unsere Freiheit bedroht, weil fremde Entscheidungsträger tief in unsere Autonomie eingreifen.
Unser Blick heftet sich an den drohenden Verlust. Die Vorstellung, in naher Zukunft einmal die Gesundheit, Unabhängigkeit oder Freiheit oder anderes nicht mehr zu haben, macht uns in der Regel grosse Angst. Wir können uns ein Leben ohne diese Dinge kaum vorstellen und wir bleiben mit unserem inneren Blick am zu Verlierenden hängen. Wie gebannt schauen wir mit ängstlicher Ohnmacht auf die Bedrohung. Der Verlust oder die Angst davor zieht uns runter, raubt uns die Kräfte und schwächt und kränkt uns dadurch.
Erst wenn wir in die Selbstreflexion gehen und erkennen, dass es sich bei allem, was wir verlieren könnten, nicht um unser Eigentlichstes handelt, sondern um äussere Dinge, an denen wir hängen, können wir uns wandeln. Es liegt keine Macht in den Bedrohungen. Wir meinen bloss, dass wir ohne diese Dinge, die wir verlieren, nicht mehr sein könnten. Wir haften oft so stark daran, dass wir uns eins fühlen mit ihnen und ohne ihren Besitz meinen, nichts mehr zu sein und als lösten wir uns mit dem Dahinschwinden von Gesundheit, Freiheit oder ökonomischen Unabhängigkeit gleich auch selber mit auf. Die Angst hält uns in ihren Klauen und frisst uns auf. Aber auch darin liegt keine Macht.
Dabei geht es nicht darum, dass diese Dinge, die ich verlieren könnte, unbedeutend oder sinn- und wertlos wären. Ganz im Gegenteil, sie ermöglichen uns das Leben auf der Erde. Ihr Verlust ist äusserst schmerzlich und traurig. Dennoch sind wir sie nicht selber, sondern haben sie zur verantwortungsvollen Verfügung. Spätesten mit dem eigenen Tod schwinden sie dahin. Ihr Besitz ist bloss zeitlich.
Der drohende Verlust weist uns darauf hin oder zwingt uns gewissermassen, dem Leben unter den veränderten Bedingungen eine neue Bedeutung, einen neuen Sinn, einen neuen Inhalt beizumessen. Dies können wir schöpferisch dank unserer gedanklichen Gestaltungskraft tun. Ich bin die Kraft in mir. Nicht immer können wir darüber verfügen, was uns von aussen begegnet. Aber immer habe wir die Freiheit mitzugestalten, welchen Bezug wir dazu einnehmen wollen.
Wenn wir angeregt durch den drohenden Verlust unseren eigenen Gestaltungskräften auf die Spur kommen, ändert sich unser Blick auf das Leben: Die passiv zu erleidende Bedrohung wird zur Herausforderung. Aktiv können wir lernen unsere ureigensten Schöpferkräfte in der Welt im Rahmen des Möglichen anzuwenden. Folgender Spruch von Rudolf Steiner kann uns auf diesem Weg unterstützen:
Dass Du die Kraft in dir erkennen mögest:
(1913 oder später)
Sei stille und erkenne,
Dass Ich die Kraft in dir bin.
Es ist keine Macht in den Umständen
Es ist keine Macht im Persönlichen
Es ist nur Kraft in Mir, der ich
Dein Urwesen bin.